Online Teilnahme:
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Meeting-ID: 956 0341 2698
Kenncode: 135860
Prof. Dr. Noyan Dinçkal
Im Modus der technischen Bewältigung: Prothesen, Arbeit und Leistung in der westdeutschen Kriegsfolgengesellschaft
Abstract
Kriegsversehrung war ein wichtiges Merkmal der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft. Um 1950 lebten in der Bundesrepublik ungefähr 1,5 Millionen kriegsversehrte Personen, also Menschen, die durch Kriegshandlungen dauerhafte physische oder psychische Schädigungen erlitten hatten. Den Rahmen des Vortrages bilden die Bemühungen um eine gesellschaftliche Integration von Kriegsversehrten in die bundesrepublikanische Kriegsfolgengesellschaft, wobei Integration vor allem die Eingliederung in Arbeits- und Produktionsprozesse meinte. Innerhalb diesen Rahmens möchte ich die Rolle von Prothesen diskutieren, die auch als Zeichen eines zwar zerstörten, aber im Wiederaufbau befindlichen Staatswesens fungierten. Die Prothetik spielte eine wichtige Rolle, denn sie offerierte den Kriegsversehrten auch immer „Verbesserungsangebote“ an das Selbst, die wiederum mit den Veränderungen in den Lebensverhältnissen in der frühen Bundesrepublik verwoben waren. An diese Überlegungen anknüpfend stehen zwei Ausgangshypothesen im Vordergrund: Die erste ist, dass im Zentrum der Diskurse um Kriegsversehrung die Verminderung oder die Unfähigkeit stand, einer produktiven Tätigkeit nachzugehen. Die Wiederherstellung der Leistungs- und Arbeitsfähigkeit stand dementsprechend im Vordergrund, wenn es um die sozialpolitische und medizintechnische Versorgung ging. In Prothesen – so die zweite Ausgangshypothese – manifestieren sich an der Schnittstelle von Körper und Technik gesellschaftliche Leistungserwartungen. Insofern sagen Prothesen nicht nur etwas über auf Erwerbsarbeit bezogene Defizitdiskurse aus, sondern auch etwas darüber, wie in den ersten Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg definiert wurde, was Menschen zur Partizipation am gesellschaftlichen Leben benötigten. Welche Erwartungen lassen sich an der Prothetik ablesen? Welche Funktionen wiesen Expertengruppen der prothetischen Versorgung zu? Welche Spuren hinterließ z.B. die Automatisierung der Arbeitswelt in der Prothesenlogik? Welche gesellschaftlichen Vorstellungen von Leistung lassen sich in diesem Zusammenhang unter den Bedingungen eines zunehmend konsumorientierten, wohlfahrtsstaatlich ausgerichteten Gesellschaftsmodells identifizieren?
CV
Prof. Dr. Noyan Dinçkal ist Professor für Europäische Wissens- und Kommunikationsgeschichte der Moderne an der Universität Siegen. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Kultur-, Technik- und Wissenschaftsgeschichte sowie die Stadt- und Umweltgeschichte.